Die ewige Orientalische Frage

Das gespannte russisch-türkische Verhältnis resultiert auch aus einer über die Jahrhunderte tradierten Feindschaft

  • Armin Jähne
  • Lesedauer: 5 Min.

Es war nicht allein der Traum russischer Zarinnen und Zaren, sich des osmanischen Konstantinopels (heute Istanbul) zu bemächtigen. Kein geringer als Fjodor Dostojewski verlangte, dass »dieses Rom des europäischen Ostens, dieses Rom der Slawenheit«, den Türken entrissen werden sollte. Der russische Schriftsteller wiederholte diesen Gedanken 1877, als die russischen Truppen bereits auf den Höhen des zentralen Balkan-Gebirges standen: »Konstantinopel muss unser werden, weggenommen den Türken von uns, den Russen, und unser bleiben auf ewige Zeiten.«

Die Niederlage der Osmanen in diesem zehnten Russisch-Türkischen Krieg war katastrophal. Das Tor ins »Rom der Slawenheit« stand weit offen, aber St. Petersburg zögerte. General Michail Skobelew, Kriegsheld und Liebling der Truppe, weinte, als er incognito Konstantinopel besuchte: »Man wird einige Jahrhunderte warten müssen«, sagte er voller Resignation, »ehe wieder solch günstige Umstände wie jetzt eintreten«. Zwar hatte das russische Oberkommando bereits beschlossen, Ende Januar 1878 Gallipoli und Konstantinopel zu besetzen und seine Truppen auf die asiatische Seite des Bosporus zu bringen. Eine Depesche aus St. Petersburg verbot jedoch das Unternehmen, denn der Zar fürchtete den Widerstand Österreich-Ungarns, Frankreichs und Englands. Inzwischen war nämlich ein britischer Marineverband im Marmara-Meer vor Anker gegangen. Als Alexander II. dann doch noch den Befehl zur Einnahme Konstantinopels gab, war es bereits zu spät. Der verlorene Sieg waren geradezu symptomatisch für die jahrhundertelangen russisch-türkischen Auseinandersetzungen.

Die Kriege zwischen beiden Mächten im 17./18. Jahrhundert entsprangen vor allem Russlands Streben nach einem festen Zugang zum Schwarzen Meer. Aber auch die Türken verfolgten expansionistische Interessen. Nach der Vereinigung der Ukraine mit Russland (1654) versuchten sie, ukrainisches Territorium zu okkupieren. Im Frieden von Bachtschisaraj 1681 wurde schließlich der Dnjepr als Grenze zwischen den türkischen Besitzungen und Russland festgelegt. Moskau sicherte sich Kiew und die ukrainischen Gebiete links des Dnjepr. Noch drei Kriege waren nötig, bis Russland sich die Krim aneignen konnte (1783) und freien Zugang zum Schwarzen Meer erhielt.

Ab Ende des 18. Jahrhunderts wurde durch die »Orientalische Frage« das russisch-türkische Verhältnis erneut getrübt. Ein Streitfall war die Beherrschung und Nutzung des Bosporus und der Dardanellen oder anders ausgedrückt, die freie Durchfahrt der russischen Flotte ins Mittelmeer. Zudem verstand sich Russland als Schutzmacht der orthodoxen Christenheit auf dem Balkan. Und drittens ging es alsbald um das territoriale Erbe, das der »kranke Mann« am Bosporus, wie das Osmanische Reich genannt wurde, im bereits absehbaren Fall seines Zusammenbruchs hinterlassen würde. Ein wahrhaft »gordischer Knoten«, an dem alle europäischen Großmächte zurrten, Preußen weniger.

Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte Zar Nikolaus I., der »Gendarm Europas«, eine für Russland günstige Aufteilung des Osmanischen Reiches in einzelne Interessensphären zu erzwingen. England und Frankreich, die sich wider russische Erwartung miteinander verbündeten, unterstützten die türkische Seite. Die ultimative russische Forderung, alle christlich-orthodoxen Untertanen im Osmanischen Reich unter den besonderen Schutz des Zaren zu stellen, wies die Türkei vehement zurück. Sie verlangte ihrerseits die Freigabe der 1853 von russischen Truppen besetzten Donaufürstentümer (Moldawien und Walachei). Da Russland nicht reagierte, erklärte die Türkei dem nördlichen Nachbarn im Oktober 1853 den Krieg. Die anglo-französische Flotte lief zur Unterstützung der Türken in die Dardanellen ein und operierte alsbald im Schwarzen Meer. Zu Lande wurde im Kaukasus, in der Donauregion und ab September 1854 auf der Krim gekämpft, wo britische, französische und türkische Truppen bei Sewastopol gelandet waren.

Der Krimkrieg endete für Russland mit einer Niederlage. Die Bedingungen des Pariser Friedensvertrages von 1856 waren hart. Das Schwarze Meer wurde zu einer neutralen Zone erklärt. Russland durfte dort weder eine Flotte noch eine Marinebasis unterhalten. Im Artikel 7 anerkannten die europäischen Großmächte die Unabhängigkeit und die territoriale Integrität des Osmanenreiches. Zu der nun einflussreichsten Kraft in der »Orientalischen Frage« waren Frankreich und England geworden. Russland hingegen zog sich mehr und mehr zurück und vollzog eine Abkehr von Europa.

Eine Wende in den russisch-türkischen Beziehungen trat nach der Oktoberrevolution 1917 ein. Russland wie die Türkei gehörten zu den Verlierern im Ersten Weltkrieg. Das Osmanische Reich wurde auf das Kernland Türkei reduziert und das nahöstliche »Erbe« unter die neuen Schutzmächte England und Frankreich aufgeteilt. In kolonialer Manier wurden willkürlich Grenzen gezogen, ohne Rücksicht auf ethnische Gegebenheiten. Die Folgen erwiesen sich für den Nahen Osten - bis heute (s. Kurdenproblem) - als ebenso unheilvoll wie die Festlegungen des Berliner Kongresses 1878 für den Balkan.

Zwischen der nunmehrigen Sowjetunion und der Türkei entspann sich kurzzeitig ein freundschaftliches Verhältnis, das den Zweiten Weltkrieg fast unbeschadet überdauerte. Weil aber unter Missachtung des Abkommens von Montreux 1936, das die Durchfahrt durch die Meerengen regelte, die Türkei deutsche Kriegsschiffe den Bosporus hatte passieren lassen, wandte sich Moskau im August/September 1946 mit dem Vorschlag an Ankara, gemeinsam die Meerengen zu schützen. Doch der Kalte Krieg ließ die in Potsdam geborene Idee einer Revision von Montreux zur Makulatur werden; die Grenze der Systemkonfrontation verlief durch den Balkan und an der türkisch-kaukasischen Grenze.

An die Stelle Englands und Frankreichs sind heute in Nahost die USA als Ordnungsmacht getreten. Ihre Kriege haben die Region in ein politisches, militärisches und humanitäres Chaos gestürzt. Das scheint einigen türkischen Führern in die Hände zu spielen, die glauben, ein neues osmanisches Imperium errichten zu können - auf Kosten Syriens und Irans. Russland stört dabei mit seinem militärischen Eingreifen. Den russischen Riesen am Boden zu halten, gefesselt und angepflockt wie es die Bewohner von Liliput beim Riesen Gulliver versuchten - davon träumen die USA, die Türkei und die Terroristen. Wer den Roman von Jonathan Swift gelesen hat, der weiß, wie vergebens die Anstrengung der Liliputaner war.

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